Tektonische Verschiebungen in der Arbeitswelt

Industrie 4.0 - Fertigung fusioniert mit IT

27.11.2013
Von 
Walter Simon ist Wirtschaftstrainer und Zukunftsforscher in Bad Nauheim.
Informations- und Kommunikationstechnik (ITK) sowie das Internet haben das Potenzial, die Industrie in ein neues Zeitalter zu katapultieren. Doch die künftigen Produktions- und Wertschöpfungsnetze müssen sich erst noch bilden.

Die Fabrikhalle ist fast menschenleer. Fahrroboter steuern wie von Geisterhand Fertigungsanlagen und Abfüllstationen an, um Rohlinge, Halb- oder Fertigprodukte anzuliefern oder abzuholen. Die zu erledigenden Arbeitsschritte lenken allerdings nicht die entsprechend vorprogrammierten Maschinen, sondern das Werkstück, das zu bearbeiten ist, organisiert selbst die Abläufe. Rohlinge, Fabrikate und Produkte sind "intelligent".

Industrie 4.0 - Fertigung fusioniert mit IT
Industrie 4.0 - Fertigung fusioniert mit IT
Foto: Zentilia & LE image, Fotolia.com

Der Kunde kann in einem solchen Szenario den Produktionsstand seines Auftrags jederzeit online abrufen und kontrollieren. Produktionsdaten werden automatisch auf die Tablets oder Smartphones der Mitarbeiter einschließlich der LKW-Fahrer übermittelt, damit diese entsprechend disponieren können. Natürlich "denkt" auch die Maschine mit, gleicht den Auftrag mit dem noch vorhandenen Material ab und ordert je nach Bedarf über das jeweilige Transportsystem Nachschub. In der Buchhaltung wird der Auftrag schließlich automatisch fakturiert.

Industrie 4.0: Definitionen

Eingebettete Systeme (ES) sind Kombinationen aus Kleinstcomputern und Software, die, eingebettet in Systeme (Geräte), diese kontrollieren, steuern und regeln. Beispiele: Herzschrittmacher, implantierte Biosensoren, Mikrowellen, ABS, Handys, Navigationssysteme.
Ein Cyber-Physical System (CPS) ist ein Verbund von mechanischen und elektronischen Komponenten, die über ein Netz miteinander kommunizieren und sich koordinieren. Bei diesen Komponenten handelt es sich in der Regel um eingebettete Systeme, die an einer bestimmten Stelle im Verbund wirken.
Beim Internet der Dinge werden Gegenstände jedweder Art durch Programmierbarkeit, Speichervermögen und Sensoren intelligent, kommunikations- und steigerungsfähig. Grundlage ist die Radio Frequency Identification (RFID).
Während das Internet die infrastrukturelle Grundfunktion der Übertragung bietet, ermöglicht das Internet der Dienste Online-Anwendungen, die mit eigenen IP-Adressen in einem Netzwerk funktionieren. Die neuen Dienstangebote werden mit Web 2.0 bezeichnet. Mit ihnen können technische, soziale, wissensbasierte und freundschaftliche Beziehungen zwischen Benutzern aufgebaut werden. Darum tragen sie auch die Bezeichnung Social Media.

Embedded Systems (ES) machen Produkte intelligent

Industrie 4.0 ermöglicht die vertikale Integration von technischen und kaufmännischen Aufgaben und Prozessen. Tritt aber einmal ein Problem auf, beispielsweise der Ausfall eines Fertigungsroboters, ergeht Meldung an das Werkstück, das sich nun eine andere Fertigungsstation sucht - soweit eine verfügbar ist. Auch das geschieht vollautomatisch. Ist das Fertigungsmodul nicht "ansprechbar", prüft das "intelligente" Produkt, ob gegebenenfalls der übernächste Produktionsschritt vorgezogen werden könnte.

Die Phasen der Industrialisierung

Industrie 1.0

Industrie 2.0

Industrie 3.0

Industrie 4.0

Ende 18. Jahrhundert

Beginn 20. Jahrhundert

Beginn der 1970er Jahre

21. Jahrhundert

Mechanische Produktionsanlage (Webstühle)

Massenproduktion (Fließband)

Automatisierung durch Elektronik und IT

Informatisierung durch Internet und Cyber-Physical Systems

Wasser- und Dampfkraft

Elektrische Energie

Quelle: Walter Simon

Diese Abläufe zu organisieren und zu steuern war und ist heute noch Sache der Fertigungsplanung - mit einer gewissen manuellen Komponente der Mitarbeiter. Im 4.0-Zeitalter prüft und entscheidet der eingebettete Mikroprozessor. Er klärt mittels M2M-Kommunikation (Maschine-zu-Maschine) in Sekundenschnelle die Situation und trifft seine Entscheidungen. Das sich bisher passiv verhaltende Material nimmt nun eine aktive Rolle ein.

Der Begriff "intelligente Produkte" erklärt sich durch einen erbsengroßen Mikroprozessor, der sich im oder am Produkt befindet. Hierfür hat sich der Begriff "einge-bettete Systeme" (ES) eingebürgert. Dieser Chip kann als eine Art Fingerabdruck im Produkt verbleiben, so dass es lokalisierbar beziehungsweise identifizierbar bleibt. Im Haushalt findet man solche ES beispielsweise an Erfassungsgeräten für Heizkosten, die nicht mehr abgelesen werden müssen, weil sie den Verbrauch funkgesteuert direkt an den Betreiber melden.

Dezentrale Fertigung und individualisierbare Produkte

Plötzlich meldet sich ein guter Kunde mit einem höchst eiligen Sonderwunsch. Er benötigt 500 Produkte, beispielsweise Kurbelwellen. Die Produktion arbeitet gerade an einem Auftrag für einen anderen Abnehmer mit einer Losgröße von 10.000 Stück. Im Normalfall ist es fast unmöglich, den Sonderauftrag in die laufende Produktion einzuschleusen, ohne dass immense Kosten entstehen. Es gilt die Regel: Je mehr identische Produkte im Fertigungsfluss, um so geringer fallen die Kosten aus (Economies of Scale). In der 4.0-Produktion wären dagegen sogar Losgrößen von eins, also Unikate, machbar. Eine individuelle Fertigung erscheint nun möglich.

Dafür wird ein Rohling mit einem Chip ausgestattet und sucht sich selbständig seinen Weg durch die Produktion. Auch wenn keine Maschine für die volle Bearbeitungszeit zur Verfügung steht, hilft sich der Rohling, indem er die Leerlaufzeiten an anderen Maschinen nutzt. Das Unikat wird rechtzeitig fertig. Die Industrie beschreitet eine Schleife von der Einzel- zur Serienfertigung zurück zur Einzelfertigung - Letztere ohne Produktivitätsverlust.

Heute werden die Abläufe noch zentral von der Produktionsleitung gesteuert und von der Arbeitsvorbereitung koordiniert. Im nächsten Jahrzehnt - im Zeitalter von Industrie 4.0 - geht die Initiative vom Werkstück beziehungsweise dem eingebetteten Chip aus. In diesem ist das Fertigungsprogramm für die Maschine nebst virtuellen Zeichnungen gespeichert. Das Produkt dient als Informationsträger, auf dem alle Prozessparameter niedergelegt sind. So wird auch die von der Norm ISO 9001 geforderte Rückverfolgbarkeit von Produkten bestens gewährleistet. Das Werkstück steuert sich selbst durch die Produktion - wir steuern in das Zeitalter dezentraler Fabrikation.

In der "integrierten 4.0-Fabrik" wird nicht mehr sequentiell, also der Reihe nach, gearbeitet, wie man es vom Fließband kennt, sondern entkoppelt, flexibel und integriert. Die Fabrik der Zukunft besteht aus Fertigungsinseln, Anlagen oder Robotern, die eine Vielzahl von Operationen ausführen können. Die Kommunikation erfolgt funk-gesteuert über das Internet, da eine Verkabelung der Fabriksysteme angesichts der Menge kaum praktikabel wäre. Der Materialtransport funktioniert über funk- und sensorgesteuerte Transportsysteme.

Diese Beschreibung zeigt deutlich einen Paradigmenwechsel. Hierfür hat sich mittlerweile der Begriff Industrie 4.0 in der Branche durchgesetzt. Die IT-affine Nummerierung weist auch auf den Charakter der 4.0-Version industrieller Fertigung hin. Sie wird nicht durch Wasser- und Dampfkraft oder Elektrizität getrieben, sondern durch Informations- und Kommunikationstechnik sowie das Internet.

Die ITK als Auslöser und Treiber der Industrie 4.0

Die Fertigungssysteme und Produkte der "Smart Factory", so eine der Bezeichnungen für die zukünftige Produktionsweise, sind mit eingebetteten Systemen ausgestattet, die vernetzt funktionieren. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Cyber-Physical Systems (CPS). Da diese aus mehreren, oft autonomen Einzelteilen bestehen, werden sie auch als "System of Systems" charakterisiert. Hier gilt die aristotelische Erkenntnis, nach der das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist.

Heute dringen immer mehr drahtlose ITK-Komponenten in den Alltag der Menschen und die Berufswelt ein. Diese sind als Bestandteil von "Dingen" (Produkte, Gegenstände, Objekte) drahtlos vernetzt und in der Lage, ihre Umwelt zu erfassen und interaktiv zu reagieren.

Das Internet besteht also nicht mehr nur aus Menschen, die im Netz agieren, sondern auch aus Dingen - darum der Begriff "Internet der Dinge".

Im klassischen Computing waren reale und virtuelle Welt strikt getrennt. Das dingliche Internet hat den Prozess der Verschmelzung beider Welten in Gang gesetzt. Die Fusion wird über die beschriebenen CPS forciert, durch das Zusammenspiel von eingebetteten Systemen, Anwendungsgeräten und ITK-Infrastrukturen. Um zweckorientiert zusammenzuwirken, erhalten Gegenstände eine "persönliche" Internet-Adresse, die für die Interaktion auf der Basis von Internet-Protokollen notwendig ist. Die Voraussetzungen hierfür sind durch die neue Internet-Version IPv6 gegeben. Waren bis vor Kurzem im alten Adressraum IPv4 4,3 Milliarden Internet-Adressen möglich, sind es jetzt 340 Sextillionen (340 mit 36 Nullen). Damit ließen sich jedem Sandkorn auf der Erde theoretisch mehrere IP-Adressen zuteilen.